IGB: Herr Loskill, das erste, was man auf Ihrer Website liest, ist, dass Ihre wissenschaftlichen Interessen an der Grenzfläche von Physik und Ingenieurwissenschaften zur Biologie und Medizin liegen. Damit passen Sie ja bestens zum Fraunhofer IGB. Was bringt Sie hierher?
Loskill: Die Kombination von grenzflächenbestimmten Fragestellungen und biologischen Systemen, speziell dem Tissue Engineering, aber auch der Mikrobiologie, reizt mich am Fraunhofer IGB. Meine interdisziplinäre Ausrichtung entwickelte sich ja bereits während meines Studiums. Parallel zur Physik habe ich auch Biologie und Mathematik studiert und so von Anfang an Konzepte und Arbeitsweisen der Biologie kennengelernt, die ich dann in meiner Doktorarbeit und später im Rahmen meines Postdocs anwenden konnte. Das Schöne ist zudem, dass am IGB auch die Oberflächenphysik selbst, also der Bereich der Physik aus dem ich ursprünglich komme, vorhanden ist.
IGB: Und wie kamen Sie auf Fraunhofer?
Loskill: In Berkeley habe ich zuletzt auch schon anwendungsorientiert geforscht. Das hat mir gut gefallen und so habe ich gezielt nach angewandter Forschung in Deutschland Ausschau gehalten. Ich habe die Ausschreibung zum Fraunhofer-Förderprogramm Attract gefunden und fand es sehr attraktiv.
IGB: Was haben Sie mit Ihrer Gruppe nun vor, was bringen Sie mit? Und wo liegt das für Fraunhofer wichtige Anwendungspotenzial?
Loskill: Mein persönliches Ziel ist es, In-vitro-Modelle für verschiedene Organe zu entwickeln – und dabei die jeweils kleinste, physiologisch funktionelle Organeinheit nachzubilden. Hierzu bringe ich meine interdisziplinäre Expertise im Bereich Oberflächenphysik, Mikrostrukturierung und -fluidik mit. Aus meinen letzten Forschungsarbeiten in Berkeley kann ich auch an Kenntnisse im Stammzell- und Tissue Engineering anknüpfen.
Wenn es gelingt, die mikrofluidischen In-vitro-Modelle als industrietaugliche Hochdurchsatz-Testsysteme zu entwickeln, lassen sich die Organ-on-a-Chip-Systeme für das Hochdurchsatz-Screening von Arzneimitteln und Kosmetika einsetzen. Und Tierversuche in der präklinischen Forschung könnten minimiert werden. Da ich humane Zellen verwende, macht zudem die erhöhte Vorhersagekraft der Tests die Arzneimittelentwicklung schneller und kostengünstiger.
IGB: Aber es gibt ja schon andere Ansätze zu Gewebemodellen als In-vitro-Testsysteme, auch am IGB. Warum Organ-on-a-Chip?
Loskill: Die bisherigen In-vitro-Gewebe sind vor allem vielversprechend als Implantate in der regenerativen Medizin. Für Arzneimitteltests dagegen sind die mir bekannten Modelle momentan nur mit Einschränkungen anwendbar. Das liegt zum einen daran, dass sie den komplexen Blutkreislauf menschlicher Organe nicht nachbilden können. Die kontinuierliche Versorgung der Zellen mit Nährstoffen, die Zugabe des zu testenden Arzneimittels zu den Geweben und der Abtransport von Stoffwechselprodukten sind aber ganz wichtige Voraussetzungen für ein aussagekräftiges Testsystem. Daneben ist auch die makroskopische Dimension bisheriger Gewebemodelle von Nachteil: Man benötigt eine sehr große Zahl an Zellen, was auch die für ein industrielles Scale-up notwendige Parallelisierung erschwert.
Wenn ich aber künstliche Gewebe – mit In-vivo-Struktur und biologischer Funktionalität – in physiologisch relevante, mikrofluidische Umgebungen integriere, kann ich diese beiden Nachteile beseitigen. Bei mikrofluidischen Chip-Systemen reden wir von Flüssigkeitsvolumen auf der Nanoliter-Skala und ich benötige sehr viel weniger Zellen auf einem Chip als in einem Mikrotiterplatten-Well – und damit weniger der teuren Reagenzien und Substanzen für die Testung. Weil die mikrophysiologischen Systeme so wenig Raum benötigen, lassen sie sich auch gut parallelisieren, also für den Hochdurchsatz optimieren. Die präzise Kontrolle über Struktur und Materialeigenschaften der mikrofluidischen Umgebung machen die Chip-Systeme sehr standardisiert herstellbar und die Ergebnisse lassen sich damit unmittelbar vergleichen. Ich kann dann viele verschiedene Parameter gleichzeitig auf einem Chip untersuchen: Zum Beispiel teste ich in einem einzigen Ansatz verschiedene Wirkstoffkandidaten oder Varianten davon. Oder ich verändere die Dosis eines Wirkstoffkandidaten und sehe auf einem einzigen Chip, wie sich die Dosis auf das Organsystem auswirkt.
IGB: Wie bauen Sie denn einen solchen Chip und wie genau funktioniert das als Testsystem?
Loskill: Die Chips mit ihren Kanälen, durch die dann später die Versorgungsmedien fließen, sowie den Kammern, in welchen die Gewebe generiert werden, stelle ich mit lithographischen Verfahren her. Mit Methoden, die auch in der Mikroelektronik verwendet werden, strukturiere ich die Oberfläche von Silizium-Wafern und erstelle somit eine »Master«-Abgussvorlage. Daraus gieße ich Kopien in polymeren Systemen ab. Dazu baue ich derzeit ein Lithographie-Labor auf, das auch sicherlich für andere Gruppen am IGB von Interesse sein kann.
Für den Aufbau der Organsysteme arbeite ich mit menschlichen induziert-pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen), mit denen die Abteilung Zell- und Tissue Engineering ja auch bereits arbeitet. Ich nehme solche Stammzellen, entwickle sie zu den gewünschten differenzierten Zellen weiter und injiziere sie in die jeweiligen Kammern in den Chips.
Neben der Integration der biologischen Gewebe ist es auch notwendig, entsprechende Analysemethoden zu implementieren. Wenn ich zum Beispiel Herzmuskelgewebe habe, muss ich, um die Funktionalität messen zu können, die Schlagbewegung charakterisieren und auch Sensoren integrieren, die die mechanische Kraft messen. Damit kann man sich dann Parameter wie die Herzfrequenz, das Vorkommen von Arrhythmien und die Kontraktionskraft anschauen und analysieren, wie Präparate diese Parameter beeinflussen.
IGB: Nun hat die deutsche Ausgabe des MIT Technology Review Sie ja bereits 2015 für Ihre in Berkeley entwickelten Organ-on-a-Chip-Systeme zum »Innovator unter 35« gekürt. Wo ist denn dann noch das Neue, was Sie am IGB vorhaben?
Loskill: In den USA habe ich Organ-on-a-Chip-Systeme entwickelt, mit denen ich das »Proof of Concept«, also die prinzipielle Machbarkeit, zeigen konnte. Die Systeme habe ich als Einkanalsystem aufgebaut, es sind lediglich erste »Prototypen«, die sich aber noch nicht wirklich als Testsystem eignen.
Das heißt, ich muss die Grundidee meines Systems schon noch wesentlich weiterentwickeln und verfeinern. Erst einmal muss ich sicherstellen, dass meine Modelle tatsächlich auf einer minimalen Grundfläche eine echte In-vivo-Struktur und die Funktionalität der jeweiligen Organe aufweisen. Dann müssen wir die Modelle validieren: Also in funktionellen Tests zeigen, dass die wichtigsten Funktionen der jeweiligen Gewebe nachgebildet werden und durch Tests mit kommerziellen Arzneimitteln, deren klinische Wirkung bereits bekannt ist, zeigen, dass ich mit meinem Organ-on-a-Chip-System genau auch diese Wirkung nachweisen kann. Erst dann können wir in Kooperationen mit Pharmaunternehmen weitere experimentelle, in der Entwicklung befindliche Präparate untersuchen. Der letzte Schritt ist, die Systeme für die industrielle Anwendung weiterzuentwickeln. Dazu müssen, wie zuvor schon gesagt, die einzelnen Systeme parallelisiert und die Handhabung der Chips und die Versuchsdurchführung automatisiert werden.
IGB: Auf welchen Organen und welchen Anwendungen wird Ihr Fokus liegen?
Loskill: Mein erstes Modellorgan war der Herzmuskel, zuletzt habe ich auch ein Chip-System für weißes Fettgewebe aufgebaut. Auf diese Gewebe setze ich auch erst einmal hier am IGB, denn sie passen ja sehr gut zu den am IGB untersuchten Geweben. Das heißt, wir werden Herz- und Fettgewebemodelle aufbauen, die auf menschlichen iPS-Zellen basieren und in physiologische mikrofluidische Umgebungen eingebettet sind. Da die Kardiotoxizität von Arzneimittelkandidaten ein häufiger Grund für ihr Scheitern ist, spielt das Herzgewebe in der Arzneimittelentwicklung von Herzmedikamenten eine ganz wichtige Rolle. Weißes Fettgewebe ist nicht nur für die Speicherfunktion von besonderer Bedeutung, sondern auch bei Adipositas und Diabetes. Diese Erkrankungen sind in der westlichen Welt mittlerweile so häufig, dass man fast von neuen Volkskrankheiten sprechen kann.
Wenn das Verfahren schließlich etabliert ist, möchte ich aber selbstverständlich auch noch weitere Gewebe untersuchen und als Organ-on-Chip aufbauen.
Ein enormes Potenzial sehe ich auch im Bereich der personalisierten Medizin mit patienten- und krankheitsspezifischen Systemen. Hier eröffnet die iPS-Stammzelltechnologie tolle Möglichkeiten. Durch die künstliche Reprogrammierung der Stammzellen könnte man quasi einen ganz persönlichen Chip aus seinen eigenen iPS-Zellen bauen, die man z. B. aus der Haut gewinnt. Damit kann man dann untersuchen, wie eine Patientin oder ein Patient auf ein zugelassenes Medikament reagiert. Ob das Präparat vertragen wird oder ob es die gewünschte Wirkung zeigt. Das wäre besonders für chronisch Kranke ein Gewinn, wenn ich so den erfolgversprechendsten Therapieansatz identifizieren kann.
IGB: Herr Loskill, danke für das interessante Gespräch.